Von Boulogne Sur Mer waren wir enttäuscht. Der Ort war uninteressant und scheinbar im Verfall begriffen. So starteten wir mit stabilerem Wetter nach Dieppe. Noch immer kam der Wind mit 5 Windstärken eher achterlich denn raumschots und brachte uns zusammen mit dem Tidenstrom zwar eine schnelle Fahrt aber auch ein ziemliches Geschaukel. Immer wieder drehte das Boot über die Wellenkämme deutlich weg, der Autopilot war hart am Arbeiten. Wie schon am Vortag wurde es mit Kippen des Tidenstroms noch unangenehmer. Ulrike bekommt das garnicht, eine neue Erfahrung, die wir aus der Ostsee so nicht kennen.
Im Gegensatz zu Boulogne Sur Mer hat uns Dieppe positiv beeindruckt. Schon die Lage des Hafens wesentlich schöner, man sah auf eine nette Hafenpromenade mit Leben und Abends sogar Live-Musik vom Bistro organisiert. Da der Wind immer noch blies, beschlossen wir einen Tag zu bleiben. Für Samstag war die Prognose besser. Wir schauten uns Dieppe an.
Samstag dann 5:30 Uhr ablgegen nach LeHavre – es lebe die Tide. Ein Regenschauer ging nieder und wechelte zu Nieselregen. Ablegen im noch stockfinsteren Morgen. Port Control verabschiedet und in bestem Französisch – ich nahm es als Genehmigung zum Ausfahren. An-und Abmelden ist in den Industriehäfen durchaus üblich bis gefordert. Große Frachter, schnelle Fähren können schon Hektik bekommen wenn ein kleines Sportboot auf einmal um die Ecke kommt. Dank AIS wird man gesehen und dann auch schon mal ermahnt – auch heftiger.
Wieder eine schnelle Fahrt. Der Wind stand gut, der Tidenstrom schon zumindest die ersten 40sm. Nach 9 Stunde hatten wir gut 55sm abgesegelt und lagen im großzügigen Hafen von LeHavre auch wenn genau beim Anlegen die Nachmittgsbrise noch ein paar ordentliche Böen spendierte.
Le Havre wurde im Kern nach 1950 komplett neu aufgebaut – etwas Einheitsarchitektur aber recht gut gelöst. Die Stadt macht einen hellen Eindruck, das Leben pulsiert. Die Bevölkerung geniesst die schönen Restsommertage – Strandleben, Skateboardevent, es ist einiges los.
Wir machen jetzt eine kurzen Abstecher nach Hause. Beide Kinder sind in den Semesterferien da. Dann überlegen wir wie wir weiterfahren werden. Die Kanalinseln sind ggf wegen Coronbeschränkungen nicht anfahrbar. Die Erfahrung der letzten Wochen hat auch gezeigt, dass wir langsamer vorankommen – teilweise bedingt durch das Wetter aber auch, weil wir ja etwas sehen wollen.
Um 9:30 sind wir heute Morgen in den Ärmelkanal eingelaufen. Die Grenze zwischen Nordsee und Ärmelkanal wird definiert durch die Linie vom Walde Leuchtturm in Frankreich und Leaethercoat Point auf der Englischen Seite.
Um 7 Uhr waren wir in Dunkerque ausgelaufen und konnten wieder durch den Tidenstrom eine schnelle Fahrt machen, der Wind kam achterlich mit 5 BFT. Nachdem wir Calais passiert hatten kamen auch gut sichtbar die Felsen von Dover Querbalken.
Wenig später passierten wir zunächst Cap Blanc Nez und kurz darauf Cap Griz Net. Jetzt änderte sich die Küste – statt langgestreckten flachen Sandstränden erhoben sich die Küsten mit grünen Wiesen. Durch die Kursänderung ergab sich auch ein entspannteres Segeln mit Sonne am Himmel
Nachdem uns das Wetter wieder 2 Tage länger in Zeebrugge gehalten hatte als geplant – die Zeit haben wir gut für Besichtigungen genutzt, uA konnten wir dadurch auch noch nach Gent – hat der Wind heute auf Nord gedreht und bot damit die Chance weiter Richtung Süden zu kommen.
In der spätsommerlichen Dämmerung, die Tage werden deutlich kürzer, fuhren wir schliesslich bei 5-6 Windstärken aus dem Hafen. Der Tidenstrom schob uns die ersten Stunden ebenfalls, so dass wir nur mit gerefftem Großsegel mit 7-8 Knoten zügig voran kamen. Die Wellen gaben zwar durch den Winkel von hinten etwas Schaukel aber letztendlich war es in Ordnung.
10 Meilen vor Dunkerque (Dünkirchen) kippte wie erwartet der Strom und reduzierte die Geschwindigkeit auf 4-5 Knoten. Wir hatten aber das mitlaufende Wasser gut genutzt.
Nach weniger als 7 Stunden lagen wir mit 41sm gesegelt im Hafen von Dunkerque und haben damit unseren ersten französischen Hafen erreicht – sah man sofort am Weinregal im kleinen. Supermarkt.
Sollte das Wetter wie geplant bleiben geht es Morgen gleich weiter. Wir wollen die Tage nutzen und etwas Strecke machen mit Ziel erstmal Le Havre.
Von Scheveningen mussten wir das Maas-Scheldedelta bei Gegenwind unter Motor queren, ein Rodeoritt bei kabbeligen Wellen: Bei Gezeit gegen Wind sind die Wellen steiler und mächtiger, im Delta kommen noch die Queerströmungen der Wassermassen von Maas (Rhein) und Schelde dazu. Das erste Mal habe ich Laute des Unmutes über Wellen von Jürgen vernommen. Hafen ist riesig und stark industriell, ganz hinten liegen wir im ehemaligen Fischereck. Um uns herum die mittlerweile bekannte Hafenurbanisierungsbebauung, ein, zwei Geschosse niedriger, einige beleuchtete Fenster und die französische gedimmte Natriumdampfbeleuchtung, fast gemütlich. Mit der Küstentram und Bus nach Brügge. Blankenberge will Seebad sein, Charcuterie und Käseladen sehen lecker französisch aus. Ein Haus mit Art Deco decoration, also der Zeit, als die Walfischbein-Korsetts grade abgelegt wurden, steht mit hängendem Dach zwischen höhergezogenen Stahlskelett-Appartmenthäusern, die Häuser, egal wieviele Geschosse, bildet geschlossene Straßenfronten und anders als in Den Haag, wo fast alle Straßenzüge gleichförmig aussehen, aber jede Wohnung eine eigene Eingangstür, auf Straßenebene oder in überflutungsgefährdeten Bereichen nur durch eine extrem steile Streppe erreichbar. Diese Gleichförmigkeit mit roten Ziegeln, weißen Linien und Fensterecksteinen kann nur durch eine Developper-Finanzierungsstruktur entstanden sein. Hier dagegen ist jedes Haus anders, jedes Zimmer ein Stockwerk so schmal ist die Fassade, dicht an dicht aneinandergelehnt. Die mir in Erinnerung gebliebenen riesigen Ebenen von Campingplätzen habe ich nicht mehr gesehen, dafür eine Verkaufsausstellung von transportablem Ferienchalets (die robuste, nicht rollende Version von Wohnwagen). Wie in Schichten gibt es die Erlebnisbebauung gleich am Meer, die Beherbergungsbebauung, dann die Wohnbebauung, dann kommt Gewerbe (Garnelenzuchttechnik, industrielle Kartoffelprodukte und das übliche), Landwirtschaft mit der so heimatlich niederrheinischen Struktur von Pappelreihen, Gräben und Weiden, der Wind lässt die Unterseiten der Blätter hellgrau und salbeifarben flackern. Ich merke, dass sich mein Blick ändert: einerseits schaue ich aus Bus/Tram seitwärts, nicht nach vorne auf die Straße und sehe dadurch viel mehr. Mich umgeben dort mehrheitlich Menschen, die ihren gewohnten Gängen nachgehen, ins Krankenhaus, zur Schule, zur Arbeit fahren. Draussen, neben dem Fahrradweg, mitten auf dem Land, sitzt eine Familie. Vater Mutter Kind sitzt auf dem Gras, die Fahrräder flach am Boden, die Beine ausgestreckt, die Oberkörper abgestützt, wie aus einem Breughel -Gemälde entsprungen. Auf einer Kreuzung kurz bevor die Stadt steht ein Mann, um die vierzig, herausgerissen aus seiner Behaglichkeit mit orangen Plakaten eingesandwicht, protestierend gegen die Autofahrer, auf dem Plakat kann ich nur Umwelt und Klima entziffern, eine ferne Auswirkung der rabiaten Überschwemmungen weiter östlich. Ich steige aus und bin am Touristenziel, einem, dass nunmehr mit den anderen Zielen aus zwei Monaten um Würdigung kämpft. Einerseits finde ich das mittelalterlich erhaltene Zentrum schön, ich erinnere mich, wie sehr ich mich vor vier Jahre an der Kulisse von Venedig erfreut hatte, aber ich sehe, wie schwierig es ist, in den Häusern, an denen Tag für Tag massenweise Touristen vorbeigehen, die die possierlichen Häuschen aus einer ganz anderen Zeit bewundern, ein heutiges Leben mit den Möbeln in heutigen Dimensionen, Küchen mit heutigen Utensilien und eine geschützte Privatheit zu leben. Was genau finden wir daran toll? Kaum einer würde heute so dicht am Nachbarn leben wollen, mit so vielen Nachbarn gedrängt. Denken wir, dass ist unsere wirkliche Geschichte? Was davon wirkt wirklich noch- und wie? Der überwältigende Geruch der vielen Chocolatiers und Waffelbäcker markiert „Belgien“, die chinesischen Spitzen und Gobelintaschen sind sourveniertauglich. Brügge war 2002 Kulturhauptstadt, das Netzwerk der Beziehungen hält und so wird der Sommer kulturell ausgeschmückt. Auf dem Burgplatz Nachwuchsmusiker, grade macht eine Countrysängerin den Soundcheck. Das Concertgebouw -Gebäude ist eindrucksvoll. Leider ist grade heute nix im Programm. Im Groetehusmuseum die Rogier van der Weyden und den van Eyck bewundert. Unglaublich, wie einen die Gesichter anschauen über die Jahrhunderte hinweg, in hyperrealistischer Ausleuchtung,wie war das möglich in diesen dunklen Ateliers mit Talglichtern?
Beim Umsteigen sehe ich einen älteren Mann, belgische Stoppeln,klobige Schuhe, ihm fehlen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Der Enkel im Kinderwagen, die Enkelin hat den Kinderwagen fest im Griff, rosa Tüllprinzessin. Er richtet ihr die Haare mit der verstümmelten Hand, liebevoll bleibt sie auf dem Kopf liegen, es ist das beste, was ihm passiert ist seit langem, dass er so ein Kinderköpfchen kraulen kann.
Freitagabend ist Ausgehtag, man trifft sich bei Bier und Häppchen, Geselligkeit, auch hier am Hafen, scheint doch zu funktionieren, wird genossen. Bier in Tulpengläsern, von Zartgelb bis Moorbraun leuchten sie, die Gespräche gehen über Tischgrenzen hinweg. In Gent sehen wir dann auch diverse Junggesellenabschiede, viel ist nachzuholen.
Gent gefällt mir gut, der Kern ist mit vielen gut hergerichteten historischen Bauten kompakte Historie, aber es gibt auch viel Neues, eine Universität mit vielen Studenten und, da die Bausubstanz an vielen Stellen an Prenzelberg vor der Gentrifizierung erinnert, scheint auch noch Freiraum zu existieren. Eine exquisite Buchhandlung in der Nähe vom Hauptbahnhof ist gleichzeitig ein Schreibmaschinenmuseum. Schöne belgische Mode (leider auf dem Boot fehl am Platze) ist der Rest der mittelalterlich florierenden Textil und Tuchindustrie. Die Stücke sind teuer, aber man scheint sie zu pflegen: es gibt erstaunlich viele Schneidereien, die Waschsalons haben nicht nur Waschmaschinen und Trockner, sondern auch Mangeln und Bügeleisen. Interessante kleine Läden mit kreativen Dingen. Auf dem Balkon des Theaters entwickeln ein Tänzer und ein junger Schauspieler eine Choreographie im Sonnenschein, zwei Typen in weißen Anzügen schauen der Performance zu. Wie gerne würde ich das Stück sehen in dem diese Szene eingebaut wird!
an der Straßenbahnhaltestelle ein Nordafrikaner, er schreit, flucht, fleht in allen Sprachen, die ihm auf seiner Migration aufgedrängt wurden, italienisch, holländisch, englisch, Brocken. Ein babylonischer Sprachfluss, der verwirrt ist oder berauscht oder krank oder alles. Ein paar Stationen weiter sind wir im internationales Viertel, dort sitzen die Botschaften aller Herren Länder, der Friedenspalast und internationale Gerichtshof, Weltforum. Alles ist grün und friedlich und großbürgerlich, man frühstückt im Café und feiert vor dem Ende der Sommerferien oder beginnt schon wieder zu netzwerken. Outlocation, also internationale Umzüge, expat rental, expat dental- selbst auf kleiner Ebene werden internationale Krankenscheine, Visabesorungen etc abgewickelt. Es heißt, 20.000 Mitarbeiter der UN und zuzuordnender Organisationen arbeiten in Den Haag. Die Straßenbahn bringt uns ein bischen weiter über die Centralstation nach Süden hinaus, dort gibt es eine ganz andere Internationalität: Straßen, in denen die kleinen Läden von Menschen aus ehemaligen Kolonien, aus Surinam oder von Menschen geführt werden, die ein immer letzter Krieg nach Holland gebracht hat. Asiatische Nagelstudios, Kebabbuden, Internetcafés. Ein überdünner Mann mit goldener Gletschersonnenbrille späht nervös die Straßenbahn ab, eine Gruppe stiernackiger Männer in Fussballtrikots die anderen Männer, deren Kopf genauso rasiert und gescheitelt ist rituell begrüßt. Im Photomuseum ist eine Ausstellung Borealis dem Nordwald gewidmet, der die Wälder Alaskas, Kanadas, Russlands, Skandianviens und Nordjapan umfasst und gegenüber dem äquatorialen Regenwald gerne unbeachtet ist. Ausbeuterische Rodung, Brände, Klimawandel betreffen ihn aber ebenfalls in ungeheurem Ausmass. Die Photographien zeigen Baumportraits und Menschen, die in der Unwirtlichkeit des Nordens Baumfäller, Trapper, Feuerwehrmann oder Forscher sind. Nach Rotterdam müssen wir die Metro nehmen,Vorstadt, Gewächshäuser, Land, Vorstadt, Wolkenkratzer und signature buildings. Rotterdam ist, was die Dichte der Hochhäuser betrifft in einer Liga mit Frankfurt und London. Es ist Sonntag und die zu erwartenden Büroangestellten oder Consultants fehlen im Stadtbild, nur ein paar Touristen und wenige versprengte Einheimische- warum sollte man auch in die Innenstadt fahren. Der Hafen ist riesig und kann von uns mit dem Wasserbus gar nicht ermessen werden. Wir sehen belebte, schöne Parks, Skulpturengrachten und zwischen den Hochhäusern ist viel Raum, für Wind und Licht, für Fahrräder und Fussgänger. Parken ist astronomisch teuer. Ich hatte gehofft, im Architekturmuseum etwas zu erfahren über die Konzepte beim Wiederaufbau der Stadt nach der zweimaligen Bombardierung (durch deutsche und britische Truppen) im WKII, bei der man sogar die Wasserleitungen und Infrastrukturkanäle neu gemacht hat. Ein bisschen scheint es so wie bei Kunst aufräumen gewesen zu sein, die Banken um die Börse herum, die Hotels in der Nähe des Museumsparks, dortselbst verschiedene Museen an einem Platz. Doch der Ansatz des Neuen Instituts für Architektur und angewandte Künste ist anders, eher werden in großen Textblöcken Fragestellungen entwickelt und dazu einige Bilder/Installationen zur Veranschaulichung der Fragestellung gestellt. Beispielsweise zur Nutzung von AI bei der Interpretation von Bildern von Wohnräumen. Dabei greift die AI ein Bildelement auf- Spielzeug in Kinderzimmern oder Bücher in einem Wohnzimmer- und assoziiert dazu Gedanken über Pädagogik oder intellektuellen Mehrwert. In einer anderen Box wird über den Anstieg des Umsatzes von Putzmitteln während der Coronakrise berichtet und über die beruhigende Wirkung von Hygiene-Gesten. Ergänzt wird das aber durch hyper-sensoround getunte Wisch- oder Staubsaugergeräusche, die große Nervosität erzeugen. An anderer Stelle wird Raum bereitgestellt für Abschlussarbeiten von Architekturstudenten. Eher ein Lab als ein Museum, und es regt mich zu der Idee an, dass man einmal zu allen Gebäuden dieser Stadt die Projektbeschreibungen und Genehmigungstexte zusammenstellen sollte. So frage ich mich, wie die Modernisierung des Scheveninger Hafens konzipiert wurde: International schicke Wohnblöcke (wie in Malmö, Mandal, Kopenhagen etc etc), aber kein Bäcker, kein Einkauf, keine Schule und kein Kindergarten. Eigentlich kann hier nur der Consultant wohnen, morgens im Fitnesstudio bekommt er Kaffee und Croissant, Mittags wird man im Büro verpflegt und abends geht man mit Kollegen/Kunden essen oder der Lieferservice kommt. Vielleicht auch noch der pensionierte Professor. Wir bleiben noch länger, der Wind ist uns zu heftig- zur Freude der Kiter. Beim Weg zur Düne werden die Beine gesandstrahlt, um die Eingänge der Neubauten bilden sich kleine Sanddünen, die Wüste holt sich die Bauten, die Hypothekenvermittlungen und Maklerbüros zurück. Mit dem Fahrrad die Promenade entlang, Holland Casino und Pier- Brighton und seine Standard-Sommervergnügen lassen grüßen. Die Ferien sind zu Ende, das Wetter ist schlecht, die Wlken hängen tief. Das Beelden an Zee Museum grüßt mit Teletubbyartigen Skulpturen, wir lassen es lieber links liegen. Auf eigenen Fahrradsstraßen zum privaten Museum Voorlinden, 2016 eröffnet, auf einem riesigen Landgut, ein paar Kühe sind Teil der Inszenierung einer gepflegten niederländischen Landidylle, darin eine Version der Kunsthalle von Mies van der Rohe in edlen Materialien, raffiniert angelegter pseudonatürlicher Staudengarten, drinnen internationale Wellness-Kunst vom Feinsten. Aktuell wird Robin Rhode gezeigt, der sudafrikanische Stop – Motion Künstler. Während in Wolfsburg, der Arbeiterstadt, der Aspekt der Arbeit in prekären Vierteln Südafrikas herausgehoben wird, wird hier eher über den Tree-of Life meditiert. Nach vielen Tagen an der frischen Luft, Wind gradezu und spürbar abklingenden Temperaturen genieße ich es, in einem schönen, hellen, luftstillen Raum mit schönen sauberen Dingen zu sein und meine Gedanken spielen zu lassen mit diesen zweckfreien Bildern, aber es ist auch ein wenig ein guilty pleasure unter dem Glassturz. Das Museum könnte genauso gut in Skagen oder auf Usedom stehen und die dort die Möglichkeit einer Art-Idylle postulieren. So ratlos mich das Neue Institut in Rotterdam hinterlassen hat, es nimmt intensiver teil an der Gegenwart und an den spezifischen Situationen in Rotterdam.
Der Blick über das Watt bei Ebbe und Sonnenuntergang war köstlich, der Modder sah auf einmal ockergolden aus und glitzerte bis weit draußen, zur Seite weiße Dünenhügel mit fahlgrünem Strandhafer, im Vordergrund marschige Wiese, über wölbt von Kiefern, die chinesische Tuschemaler entzückt hätten. Großartig, dass die Niederländer dieses Gebiet unter die Obhut des Weltkulturerbes gestellt haben Wir erleben, dass mehr als die Uhrzeit Ebbe und Flut für hiesige Segler viel wichtiger ist: X Stunden vor oder nach Hochwasser ist Abfahrzeit, unabhängig von der Zivilzeit bestimmt der Tidenkalender den Tagesrhythmus. Egal wie viel Windwelle auf der Wasseroberfläche steht, die untergründige Flutbewegung verändert die wahrgenommenen Distanzen, mit dem Strom kommt das Ziel auf einen zu, gegen den Strom kämpft man gegen den Rückwärtssog und steilere Welle an, die Zeit bis zur Ankunft dehnt sich. Ob solche Erfahrung von Kindesbeinen an das Weltverständnis ändert? In Norwegen ist die Grenze zwischen Land und Wasser klar und hart, in Holland ist sie oftmals nicht so eindeutig, es kommt auf die Zeit an, manchmal öffnet sich ein Verbindungsweg auf dem Trockenen im Watt für einen gewissen Zeitraum auf einem veränderlichen, immer neu zu prüfenden Weg, manchmal ist er nicht mehr begehbar.
In vielen Orten an der See ist es einfach möglich, ein paar Meter Höhe zu gewinnen und schon hat man einen panoptischen Blick, das Land liegt vor einem, von oben hat man eine zusätzliche Perspektive, um die Verhältnisse zu sehen: Wo liegen die alten Häuschen, wo die neuen Hotelkomplexe, wo gibt es Felder, die bewirtschaftet sind, wo Tourismusflächen, Man kommt der Karte näher, und denkt, es wäre objektiver. Ist es das? Ist die Küstenline, mit ihrer verwirrenden Inselkulissenschieberei nicht viel stärker eine Schule der Wirklichkeitsfindung?
Die Vielgestaltigkeit der Insel gibt Terschelling auch Raum für Nischengruppen: hinter der ersten Siedlungsgruppe bildet sich die Zeltstadt der Jugendlichen, die am Wochenende anreisen, in der einen Hand einen Rollkoffer, in der anderen eine ebensogroße Soundbox auf Rollen, einer schleppt die Biervorräte- das Wochenende wird Party. Es scheinen Hunderte von der Fähre zu strömen.
Eine andere Nischengruppe sind die Traditionssegler, viele liegen beieinander in der flachen Ecke des Hafens, es wirkt fasst wie ein Jugendlager für Erwachsene und Familien, man erkennt sie an den warmen derben Stiefeln. Ein Dreimaster, der aussieht, als wäre er aus der Zarenzeit reaktiviert worden,kyrillische Buchstaben am Heck, wird allgemein anerkennend begutachtet.
Terschelling bis den Haag
Die Etappe bis den Helder führt uns durch die Waddenzee, Tonnenstrich fahren und beobachten, wie das Land sich hebt. Den Helder ist Standort der Beneluxmarine, wir liegen im Yachtclub der Marine umgeben von allem, was die Niederlande und Belgien an schweren Fahrzeugen aufbieten. Die Clubanlagen strahlen die Solidität von Kriegsgerät aus, alles groß und schwer. Die Marine der Niederlande ist, bei knapp einem Fünftel der Einwohner Deuschlands etwa halb so groß wie die Deutsche Marine und macht einen durchaus mächtigen Eindruck.
Von den Helder nach Ijmuiden zum drittgrößten Fischhafen der Niederlande. Der Hafen macht nicht den Eindruck eines Fischhafens, sondern eines rauchenden Industriehafens mit Verhüttungswerk und großen Schütthalden. Dennoch wird der Strand gesäumt von Badehausreihen, quasi als Linearisierung der gestapelten Wohnhochhäuser. Der Hafen ist Bestandteil eines in den 90gern gebauten Ferienresorts, Hotel, Kasino, Promenadebauten mit Chinarestaurant und Plastikschäufelchenvertrieb. Ein Windsurf – Basecamp ist später dazugekommen, vergangene Strukturentwicklungsvisionen. Schließlich kommen wir in Scheveningen an, bei der Einfahrt in den Yachthafen höre ich Fahrradklingeln von oben, wir liegen in einem modernen Stadthafen, vergleichbar mit dem in Malmö. Abends ist er so voll, dass man fast zu Fuß über den Hafen gehen kann, nur eine schmale Gasse bleibt.
Zollfreier Diesel! Und dann in Richtung Holland. Im ersten Moment sah es aus, als läge ein weiterer roter Sockel vor Helgoland, sogar mit weißen Spitzen, aber es ist kein Rotsandstein und Lummerschiss, sondern ein riesiges Containerschiff auf Reede. Wir biegen hinter dem Verkehrstrennungsgebiet in die Inshore Traffic Zone ein. Im Grunde 70 Meilen in Richtung West-Südwest. Wir werden dieser Linie bis morgen früh folgen. Der Wind frischt auf und kommt sehr achterlich, unangenehm, dann auch noch Gewitter bei Borkum. Normalerweise leide ich nicht an pavor nocturnus, jetzt habe ich Bammel. Umstandslos wird es dunkel. Gegen Mitternacht taucht kurz eine haardünne Mondsichel auf, verschwindet. Und dann ist es dunkel. Ganz dunkel. Mal wie in einem Kohleschacht, staubig- rußig schwarz am Himmel, manchmal sieht man das Wasser wie ein Flötz glitzern, eher aber bleibt es schwarz, man kann noch nicht einmal die Horizontline sehen, sondern konstruiert sie nur aus den Lichtblitzen von den Leuchtfeuern auf Schiermonikoog und Ameland, eine Handvoll Fischerlichter, das war´s. Eine Zeitlang können wir ein paar Sterne sehen, aber dazwischen ist viel nasse dark matter am Himmel. Wie tröstlich so ein Leuchtfeuer mit seinem Lichtstrahl durch die Nacht streichen kann! Die erste Helligkeit kommt zwei Stunden vor Sonnenaufgang, alles ist noch elefantengrau, ab und an wird ein grünlich leuchtender flatternder Fleck rötlich und flattert lautlos weg, dann haben wir einen Vogel vor uns aufgeschreckt , die Reflektion unserer Richtungslaternen auf dem weißen Bauch einer aus dem Schlaf aufgeschreckten Möve. Diesmal kein honigsüßes Licht, dass über den Rand des Horizonts über das Wasser ausgegossen wird, sondern einfach wird die obere Kuppel ein kleines bisschen heller und so wurde Himmel und Wasser geschieden. Plötzlich sehen wir einen purpurroten Kreis hinter uns, auf grauem Nebeltuch, Wolke drüber, fertig. Friesisch herb. Weiteres Licht, Regen beginnt, man riecht die nahe staubig trockene Sanddüne feucht werden, dann frischer Wattmodergeruch, Schlamm und Tang. Kleinste Spuren von Nicht-Dunkelheit. Regenwolken wie dunkelgraue Kuhbäuche, grünschlammiges Wasser und schon ist die grade gewonnene Horizontline durch feingestrichelten Regen verloren. Dann werden wir mit einem kräftigen Guss begrüßt, harter süßer Regen. Wieselgrau, Benzinrauchblau, Braunkohlebrandrauchblau, Eisgrau, Maulwurfgrau. Das Wasser schuppt sich, Schaum wie Echsenhaut. Terschelling klingt nach Sturm: die vielen Leinen, Wanten, Masten sirren in allen Tonlagen, grundiert vom Tuten der Bojen, die auch akustisch auf Prielwege aufmerksam machen. Vielleicht muss man Nächte sammeln, wie andere Stadteindrücke sammeln, nur dass man Nächte nicht als Reiseziele deklarieren kann und man kann sich nicht rausziehen wie aus einem Ort oder einer Performance, sie kommen, sind da und gehen. Die Romantiker haben sie aufgeladen mit Empfindsamkeit, dem schönen Gefühl, dem Trubel des sozialen Lebens entrückt, der Natur und seiner eigenen Natur nahe. Am Tag drauf ist man aber übernächtig und verkatert, wundermächtigen Rausch stelle ich mir anders vor.
während am Tag der Wind noch tüchtig gepustet hat, beginnt mit der Abendstunde die große Flaute. Zunächst als Abendfrieden willkommen, flappen dann bald die Segel, den Rest der Strecke fahren wir unter Motor. Es wird nun schon viel früher dunkel, etwa gegen 11 war es komplett duster. Die vorgelagerten Inseln und ihre Wattregion schirmen alles Licht ab, Städe hinter den Deichen auf dem Festland sind weit weg, kein Streulicht, keine Lichtdome über den Siedlungen. Erst kann man noch unermesslich viele Sterne sehen, dann zieht von den Rändern Nebel und Wolken auf. Unermesslich dunkel, das Wasser liegt wie eine schwarz glänzende Folie oder ein frisch gegossener Teerspiegel, keine Bewegung ausser alter Dünung. Die Windparks liegen wie rote Kristallstrukturen auf dem Wasser, in der nächtlichen Beleuchtung sehen die Serviceeinrichtungen aus wie dystopische Kulissen aus Blade Runner. Leuchtürme blinken stoisch am Rand der dunklen Wasserscheibe, der Himmel ist nur dunkel. Eine gelbe Mondwimper lässt sich kurz blicken, nur sehr wenige Fischerboote sind draußen, wir kommen ihrem gefrässigen Getöse und Geblinke nicht nahe. Die Morgendämmerung kommt spät, auf den Lichtfeldern, die Helligkeit von ersten grauen Rakelschlieren bis zu klaren transparente, transzendenten Turell-Flächen strahlen, darauf hängen Wolken aus schwarzer Rußtusche, anthrazit, asphaltgrau, endlich taubengrau. Bei der Ankunft strahlender Sonnenschein in Helgoland. Der erste Gang durch die Unterstadt lässt an einen Erlebnispark denken, der Ort ist auf eine klare Besucherführung von den Booten ausgerichtet, an den Duty-Freeläden vorbei geht die eine Route, die andere führt oben über die Klippen zum Lummerfelsen.
Bei der Ausfahrt begleiten uns drei Delphine, große Tiere. Ob sie unser graues Unterschiff für einen der ihren halten und die kläglichen Geräusche unsere Autopiloten für die Hilferufe einer von Menschen geknechteten Delphinseele, oder ob sie erwarten, wir würden eine geangelte Makrele fallen lassen- ich nehme ihre Sprünge und Kapriolen als Spielerei und damit gutes Omen.
Ziemliche Reiterei nach Hvide Sande. Neben der Mole hängen die Kiter zwischen Himmel und Welle. Im Hafen liegen wir in einer Ecke, von Fischerbooten umgeben, gegenüber das Eiswerk, Angler aus dem Ruhrgebiet, Industriebeleuchtung, die Duckdalben- Lampe geht automatisch an, wenn die Möven drunterfliegen. Hier, wie ja auch in Thyborøn, wird die Fischerei ernsthaft betrieben, nicht als nostalgische Touristendekoration, die die Vorstellung von einsilbigen Seebären und Fischernetzen voller zappelnder Leiber bedient. Aus dem Eiswerk führt ein Druckrohr das Eis in große Kästen, internationale Tauschcontainer, aus den Booten zur Fischauktion, einer großen Industriehalle, Fischmehlfabrik angeschlossen. An der Wand gelehnt stehen zwei Männer, rauchen, littauischer Kombi nebendran. Hier denkt man in Fangquoten, Kühltransporten und Lieferketten. Netze, Seile, Fangreusen.
Der Ort ist überraschend lebendig, Surfercafé mit upcyclingkonformen Palettensofas, riesiger outdoor Bekleidungsladen, Familienurlauber- man spricht deutsch- und camouflage-gekleidete Angler. Das Wasser ist wärmer als die Luft, Baden heißt Wellenhüpfen.
Leider ist die angekündigte Wetterberuhigung nicht eingetreten. Der Wind pfeift durch die Wanten mit 5-6 BFT, weiter im Süden – unserem Zielbereich – eher auch 7BFT. Dies macht die Einfahrt in die Häfen über die schmalen Kanaleinfahrten schwierig bis unmöglich. Selbst an der Badestelle im Thyboronkanal steht eine ordentliche Welle. Weiter draussen gut 2m. Aber die Richtung passt schon mal besser und in der Nacht soll der Wind dann wirklich nachlassen. Für nächste Woche gibt es sogar eine günstige Prognose Richtung Ärmelkanal.
Wenigstens scheint wieder die Sonne nachdem es 2 Tage doch eher geregnet hat. Damit können wir unseren Ausflug zum Naturschutzgebiet, wo wir auf Seehunde etc hoffen, heute noch nachholen.
Der Hafen ist leer geworden. Man merkt, dass in Dänemark die Sommerferien zu Ende gehen. Wie immer leeren sich dann Ende Juli die Häfen. Zusammen mit dem Wetter sah es dann gestern dann schon herbstlich aus – aber wir hoffen, der Sommer macht nur mal kurz Pause. Wir fahren ja Richtung Süden.