Wir tanken noch einmal zollfrei und beginnen die Fahrt in Richtung Roscoff in schönster Abendstimmung bei leichtem Wind, sonnig liegt das Meer. Dünung trägt uns sanft und dank Tidenstrom kommen wir auch mit wenig Wind elegant in die Nacht. Der Mond begleitet uns bis kurz nach Mitternacht, da der Herbst naht, bleibt es nach Monduntergang noch lange völlig dunkel. Die Sonne kämpft sich gegen acht durch die Wolken. Zum ersten Mal erlebe ich Atlantik-Dünung, in weiten Schwüngen hebt und senkt sich das Meer. In Roscoff empfängt uns ein riesiger weiter Himmel, mit dem speziellen Licht und der Transparenz eines Herbsttages, der morgens alle Feuchtigkeit mit dem Tau der Erde anheimgegeben hat. Der Ort selbst ist sehr bretonisch, graue Feldsteinhäuser mit Fensterfassungen aus großen Granitecken, Creperien, Fruits de Mer, Sehr nett und proper, ein alter Hafen (fällt trocken), einem typischen enclos parois, einem Kirchhof, der mit der Kirche auch ein Beinhaus und den Kirchgarten umfasst. Die neue Marina ist schick, mit Brasserie und Restaurant. Ein paar Schritte weiter ist ein exotischer Garten mit Palmen. Eine Gruppe von Jungs hängt herum, ich denke Illegale, sie schnorren eine Dusche und einen warmen Platz in den Sanitäranlagen, laden die Handies auf, aber sie sind extrem sauber und unauffällig. Wir fahren mit dem Bus nach Morlaix, einer ehemals wichtigen Hafenstadt, deren Blütezeit im 16. Jahrhundert schöne Häuserfronten und Plätze mit Fachwerkhäusern hinterlassen hat. Der Hafen versandete, im 19. Jahrhundert wurde ein Aquädukt quer durch die Stadt für die Eisenbahnstrecke Paris-Brest – heute undenkbar, aber mir imponiert der damalige Glaube an die Zukunft. Lange, bis 2004 war eine große Tabakfabrik des Staatlichen Tabakmonopols in Morlaix, man merkt, dass die Stadt unter der Schließung gelitten hat, aber es ist Markt und die Cafés sind belebt, es gibt junge Läden und Initiativen, vor der Stadt fährt der Bus durch eine Reihe von großen Läden (Baumarkt, drive In, Maschinenparks), das findet in den engen Gässchen keinen Platz. Vor Jahrzehnten war ich in der Bretagne, ich erinnere mich an endlose Strecken auf kleinen Straßen, fast Hohlwegen, aufgescheuchte Elsterndruiden, jetzt fährt der Bus von Dorf zu Darf über eine vierspurige Nationalstraße- es geht also weiter. Vom Bus aus kann ich ab und an einen Blick über die Bucht von Morlaix erhaschen, auf dem Wasser Segler zwischen den steinigen Inseln, auf den Hügeln blauer Kohl, grüngraue Artischocken, dunkelgrüne Zwiebeln, dazwischen kunstvoll durchbrochene graugranitene Kirchturmspitzen.
Mit den Rädern fahren wir nach St. Pol de Leon, ein kleiner Ort mit zwei riesigen Kirchen, ehemaligen Klosterschulen und Ursulinenkloster.Zwar geht es rauf und runter, aber ich freue mich an dem Blick über die Bucht, den Geruch nach Nesseln und Kapuzinerkresse, den Feldern mit Kürbissen und zartlila Disteln. Es ist wirklich La France Profonde, das tiefe Frankreich mit seiner sonntäglichen Spaziergangsstimmung.
Der Schwell an der Mooringboje übt das Kochen mit Welle: ich muss das Kardangelenk nutzen. Am Morgen werden wir zum Testen abgeholt, sehr freundlich, aber das Traveltracking System ist e twas undurchschaubar. Die Proben sollen nach Guernsey geflogen werden, aber der Flieger sei die Tage unregelmäßig gewesen. Ich ahne Unbill, denn so richtig hatte ich mich nicht auf mehrere Tage Ankern vorbereitet. Das Einreiseformular fragt nach Frischprodukten (Kartoffeln, Fleisch, Fisch..) wir machen uns dran, die Kartoffeln zuzubereiten, damit wir sie nicht abgeben müssen. Was wir sehen können von der Bucht ist: Festungsanlagen aller Besatzungen die hier jemals waren, Engländer, Deutsche. Wir sehen Steinbruchstufen, über die etwas Gras gewachsen ist, ein paar Häuschen und warten. Vielleicht ist es in einer Karibikbucht ähnlich: man liegt im Grünen, man kann baden, man kann schauen, und manchmal gibt es einen Landepunkt oder auch nicht?
Wir warten, und warten, der Schwell ist erheblich, die Leinen ächzen. Immer wieder fragen wir nach- die Melodien der Telephonleitungen kann ich mitsummen, wir liegen drei Nächte vor Boje. Sonntag trinken wir den letzten Kaffee und, nachdem die Hotline sagt, dass die Ergebnisse nicht gefunden werden und wir möglicherweise den Prozess neu starten müssen, stimmen wir mit Port Control ab, dass wir das Boot nach Guernsey verlegen.
Wir motoren bei völliger Windstille also nach Guernsey und werden dort an den Quarantäneponton eskortiert. Montagmorgen, die Batterien nur noch halb voll, Supermarktlieferung an den Pier wäre erst am nächsten Tag möglich, Kaffee alle. Noch einmal rufen wir an und da, endlich die erlösende Nachricht, der Test ist negativ. Und wir haben noch mehr Glück, das Sill ist noch passierbar und wir können an die regulären Besucherstege in Viktoria Marina. Selten habe ich eine Steckdose so willkommen geheißen. Wir bekommen den Sticker „certified“ vom Hafenmeister vorbeigebracht.
Müll wegbringen können! Einkaufen! In der Cooperative sind die Regale voll, Jürgen zeigt mir dazu die Bilder aus den Nachrichten zu Britischen Supermärkten mit leeren Regalen- dort fehlen die truckdriver aus den osteuropäischen Ländern. Und dann Guernsey erkunden: Very British indeed, Linksverkehr, Pubs mit Hohlmaß Pint. Anders als in Helgoland wird die Steueroase nicht durch übermäßig viele Parfümerien und Wiskeygeschäfte sichtbar, sondern durch prächtige Gebäude von National Westminster Bank und Price Waterhouse Coopers. Es gibt einen Immobilienmarkt für lokale Bewohner und einen offenen Immobilienmarkt für die anderen, enterprise und entrepreneurvisa .. Wir fahren mit dem Bus einmal um die Insel herum: im Süden die edlen Häuser mit großen Grundstücken, im Westen mehr Badebuchten in denen unverdrossen Kaltwasserschwimmer unterwegs sind, Wassersport jeder Art und Ferienappartments, im Norden dann die Erdöltanks für die lokale Energieversorgung, ein vergessener Hochhofen. Früher haben die vielen Gewächshäuser die Tomaten- und Gemüseversorgung gesichert, nun sind viele im Verfall begriffen (man darf sie nicht niederreissen), die Tomaten kommen aus Malaga oder Neuseeland. Ob sich das wieder ändert nach dem Brexit? In der Kirche ist der Spendentopf durch ein digitales Bezahlgerät ersetzt. Wie organisiert sich so eine Insel mit 800 jähriger Selbstständigkeit und roundabout 70.000 Einwohnern im Staat und Steuerfreiheit für Unternehmen, keiner Mehrwertsteuer? Lohnsteuer wird einbehalten.
Nach genauer Planung zur Umgehung der berüchtigten Verwirbelungen am Kap La Hague sind wir bei schönen Wetter mit entsprechender Unterstützung des Tidenstroms in einer zügigen Fahrt – in der Spitze 10kn über Grund -in Alderney angekommen. Am Kap La Hague treffen 2 Tidenströme aufeinander, die zu heftigen Verwirbelungen und Wellen führen können. Insbesondere das sogenannte Alderney Race kann mit bis zu 10 Knoten laufen. Da sind schon ordentliche Wassermassen unterwegs.
Die notwendigen Formulare waren ausgefüllt, die Tests bezahlt. Aber schon beim Einlaufen in den Hafen kam durch Port Control die enttäuschende Nachricht, dass das Ergebnis der Test 2-3 Tage dauern könnte, das hatte auf den Web-Seiten anders geklungen, eher nach Stunden. Jetzt liegen wir zunächst an einer der reservierten Quarantänebojen und dürfen nicht an Land bis die Ergebnisse unserer Test da sind.
Da Alderney zu Guernsey gehört und morgen ein gutes Fenster zur Weiterreise ist, überlegen wir – in Absprache mit Border Control! – den Wartetag zu nutzen und nach Guernsey weiterzufahren. Noch hoffen wir aber, das Ergebnis Morgen früh zu bekommen und wenigstens etwas von Alderney zu sehen.
Intermezzo zu Hause die Fahrt mit dem Zug durch die Boucles de Seine war zauberhaft schön- welliges Land, schwelgerisch mit Grassamt ausstaffiert, die Seine oder ihre Seitenarme biegsam und elegant mäandernd, verschwenderische Faltungen, anmutig mit Pappeln und Weiden gesäumt, graziös und lieblich. Nach Tagen des metallisch schimmernden Wassers eine Verwunderung über diese Farbverschwendung und Formenfülle. Die Windstille der geschlossenen Räume wird wahrnehmbar. Großes Glück, die Kinder und Freunde wiederzusehen, gemeinsam zu speisen und miteinander zu sprechen. Zurück nach Le Havre, viel Sicherheitspersonal im Gare St. Lazare, Frankreich ist deutlich wachsam. Im Museum dÁrt Moderne eine Ausstellung von Philippe de Gobert, Eingeladen zur 500 Jahrfeier der Stadt hat er Le Havre besucht und im Nachgang in seinem Atelier in Brüssel lange gebastelt. Wie Thomas Demand baut er Modelle, die er dann photographiert, beide haben die Lust an der Bastelei und ihrem spielerischen Realismus.. Wie ein Kindergott baut er Szenarien auf, vollständig kontrolliert. Zum Ende ist es nicht das Modell, sondern die Photographie, die das Werk konstituiert. Beim Beobachten sucht das Auge, der interpretierende Verstand nach Inkonsistenzen, nach Eingriffen und Fakes. Kleine Steine haben andere Oberflächen als Große, der Karton der Modelle ist aber struktur-dimensional fast wie Beton, die Leere der Szenarien ist fremd.Als Museumsbesucher lieben wir diese Erkennbarkeit mit Differenzen, an denen wir Schaulust und Denklust empfinden, auch wenn das Modellieren von Realität hier die Ebene der Emotionen, der Menschlichkeit ganz ausblendet. Am Sonntag erleben wir die Fete de Mer, Gottesdienst mit den Honoratioren der Stadt, ordensgeschmückte Uniformen, scouts marins (See-Pfadfinder) oszilieren zwischen Fahnenträgerwürde und Kinderschabernack, Prozession und Segnung der Schiffe. Mit den Fahrrädern erkunden wir die Steilküste in Richtung Etretat, nach wenigen Metern blicken wir über die azurblaue Bucht.
Le Havre Cherbourg
Neben uns liegt jetzt eine Vindö 45, kommt von einem Pazific-Turn. Respekt! Wir legen nachmittags in der Abendbrise ab. Kurz nach Le Havre überqueren wir den 0° Längengrad. Ab jetzt sind wir im Westen. Der Channel Pilot referiert länglich über die historische Seeschlacht der Unterstützer von James II gegen die Holländer, bei der ein Teil der Flotte in den Stromschnellen bei Alderney, der andere an der Pointe Barfleur in der Brandung unterging, ich habe Respekt vor der Ecke. Damit es noch eindrucksvoller wird, ist Neumond, also nur Sternenlicht und Fischerscheinwerfer. Zwei Boote grasen die ganze Nacht mit einem Netz zwischen den Booten die Fischgründe um uns herum ab, ein paarmal klingt es so, als wären wir gegen Kanister oder sonstwas gerumst, was man so nimmt, um einen Fangkasten zu markieren. Die Abendbrise flaut ab, wir werden mit 5 Knoten vom Strom vorangetragen und alles ist stabil bis Cap Vico, von wo aus wir den Motor anmachen. Cherbourg empfängt uns mit bestem Sonnenschein, einer modernen, tip top angelegten und gepflegten Marina, einem sehr guten Willkommensinfopaket und normannischen Keksen. An der Promenade Palmen und Agaven- muss man eigentlich weiter nach Süden? Im Hafen tragen einige Boote Aufkleber und Wimpel vom Fastnet-Race 2021 (Hier war Mitte August Station der Etappe Cowe/Cherbourg) wahrscheinlich wird das Boot an der Stelle nie wieder geputzt. Der Marinehafen, so wie auch die große Wiederaufbereitungsanlage ein paar Kilometer weiter westlich sind bei Google verpixelt.
Von Boulogne Sur Mer waren wir enttäuscht. Der Ort war uninteressant und scheinbar im Verfall begriffen. So starteten wir mit stabilerem Wetter nach Dieppe. Noch immer kam der Wind mit 5 Windstärken eher achterlich denn raumschots und brachte uns zusammen mit dem Tidenstrom zwar eine schnelle Fahrt aber auch ein ziemliches Geschaukel. Immer wieder drehte das Boot über die Wellenkämme deutlich weg, der Autopilot war hart am Arbeiten. Wie schon am Vortag wurde es mit Kippen des Tidenstroms noch unangenehmer. Ulrike bekommt das garnicht, eine neue Erfahrung, die wir aus der Ostsee so nicht kennen.
Im Gegensatz zu Boulogne Sur Mer hat uns Dieppe positiv beeindruckt. Schon die Lage des Hafens wesentlich schöner, man sah auf eine nette Hafenpromenade mit Leben und Abends sogar Live-Musik vom Bistro organisiert. Da der Wind immer noch blies, beschlossen wir einen Tag zu bleiben. Für Samstag war die Prognose besser. Wir schauten uns Dieppe an.
Samstag dann 5:30 Uhr ablgegen nach LeHavre – es lebe die Tide. Ein Regenschauer ging nieder und wechelte zu Nieselregen. Ablegen im noch stockfinsteren Morgen. Port Control verabschiedet und in bestem Französisch – ich nahm es als Genehmigung zum Ausfahren. An-und Abmelden ist in den Industriehäfen durchaus üblich bis gefordert. Große Frachter, schnelle Fähren können schon Hektik bekommen wenn ein kleines Sportboot auf einmal um die Ecke kommt. Dank AIS wird man gesehen und dann auch schon mal ermahnt – auch heftiger.
Wieder eine schnelle Fahrt. Der Wind stand gut, der Tidenstrom schon zumindest die ersten 40sm. Nach 9 Stunde hatten wir gut 55sm abgesegelt und lagen im großzügigen Hafen von LeHavre auch wenn genau beim Anlegen die Nachmittgsbrise noch ein paar ordentliche Böen spendierte.
Le Havre wurde im Kern nach 1950 komplett neu aufgebaut – etwas Einheitsarchitektur aber recht gut gelöst. Die Stadt macht einen hellen Eindruck, das Leben pulsiert. Die Bevölkerung geniesst die schönen Restsommertage – Strandleben, Skateboardevent, es ist einiges los.
Wir machen jetzt eine kurzen Abstecher nach Hause. Beide Kinder sind in den Semesterferien da. Dann überlegen wir wie wir weiterfahren werden. Die Kanalinseln sind ggf wegen Coronbeschränkungen nicht anfahrbar. Die Erfahrung der letzten Wochen hat auch gezeigt, dass wir langsamer vorankommen – teilweise bedingt durch das Wetter aber auch, weil wir ja etwas sehen wollen.
Um 9:30 sind wir heute Morgen in den Ärmelkanal eingelaufen. Die Grenze zwischen Nordsee und Ärmelkanal wird definiert durch die Linie vom Walde Leuchtturm in Frankreich und Leaethercoat Point auf der Englischen Seite.
Um 7 Uhr waren wir in Dunkerque ausgelaufen und konnten wieder durch den Tidenstrom eine schnelle Fahrt machen, der Wind kam achterlich mit 5 BFT. Nachdem wir Calais passiert hatten kamen auch gut sichtbar die Felsen von Dover Querbalken.
Wenig später passierten wir zunächst Cap Blanc Nez und kurz darauf Cap Griz Net. Jetzt änderte sich die Küste – statt langgestreckten flachen Sandstränden erhoben sich die Küsten mit grünen Wiesen. Durch die Kursänderung ergab sich auch ein entspannteres Segeln mit Sonne am Himmel
Nachdem uns das Wetter wieder 2 Tage länger in Zeebrugge gehalten hatte als geplant – die Zeit haben wir gut für Besichtigungen genutzt, uA konnten wir dadurch auch noch nach Gent – hat der Wind heute auf Nord gedreht und bot damit die Chance weiter Richtung Süden zu kommen.
In der spätsommerlichen Dämmerung, die Tage werden deutlich kürzer, fuhren wir schliesslich bei 5-6 Windstärken aus dem Hafen. Der Tidenstrom schob uns die ersten Stunden ebenfalls, so dass wir nur mit gerefftem Großsegel mit 7-8 Knoten zügig voran kamen. Die Wellen gaben zwar durch den Winkel von hinten etwas Schaukel aber letztendlich war es in Ordnung.
10 Meilen vor Dunkerque (Dünkirchen) kippte wie erwartet der Strom und reduzierte die Geschwindigkeit auf 4-5 Knoten. Wir hatten aber das mitlaufende Wasser gut genutzt.
Nach weniger als 7 Stunden lagen wir mit 41sm gesegelt im Hafen von Dunkerque und haben damit unseren ersten französischen Hafen erreicht – sah man sofort am Weinregal im kleinen. Supermarkt.
Sollte das Wetter wie geplant bleiben geht es Morgen gleich weiter. Wir wollen die Tage nutzen und etwas Strecke machen mit Ziel erstmal Le Havre.
Von Scheveningen mussten wir das Maas-Scheldedelta bei Gegenwind unter Motor queren, ein Rodeoritt bei kabbeligen Wellen: Bei Gezeit gegen Wind sind die Wellen steiler und mächtiger, im Delta kommen noch die Queerströmungen der Wassermassen von Maas (Rhein) und Schelde dazu. Das erste Mal habe ich Laute des Unmutes über Wellen von Jürgen vernommen. Hafen ist riesig und stark industriell, ganz hinten liegen wir im ehemaligen Fischereck. Um uns herum die mittlerweile bekannte Hafenurbanisierungsbebauung, ein, zwei Geschosse niedriger, einige beleuchtete Fenster und die französische gedimmte Natriumdampfbeleuchtung, fast gemütlich. Mit der Küstentram und Bus nach Brügge. Blankenberge will Seebad sein, Charcuterie und Käseladen sehen lecker französisch aus. Ein Haus mit Art Deco decoration, also der Zeit, als die Walfischbein-Korsetts grade abgelegt wurden, steht mit hängendem Dach zwischen höhergezogenen Stahlskelett-Appartmenthäusern, die Häuser, egal wieviele Geschosse, bildet geschlossene Straßenfronten und anders als in Den Haag, wo fast alle Straßenzüge gleichförmig aussehen, aber jede Wohnung eine eigene Eingangstür, auf Straßenebene oder in überflutungsgefährdeten Bereichen nur durch eine extrem steile Streppe erreichbar. Diese Gleichförmigkeit mit roten Ziegeln, weißen Linien und Fensterecksteinen kann nur durch eine Developper-Finanzierungsstruktur entstanden sein. Hier dagegen ist jedes Haus anders, jedes Zimmer ein Stockwerk so schmal ist die Fassade, dicht an dicht aneinandergelehnt. Die mir in Erinnerung gebliebenen riesigen Ebenen von Campingplätzen habe ich nicht mehr gesehen, dafür eine Verkaufsausstellung von transportablem Ferienchalets (die robuste, nicht rollende Version von Wohnwagen). Wie in Schichten gibt es die Erlebnisbebauung gleich am Meer, die Beherbergungsbebauung, dann die Wohnbebauung, dann kommt Gewerbe (Garnelenzuchttechnik, industrielle Kartoffelprodukte und das übliche), Landwirtschaft mit der so heimatlich niederrheinischen Struktur von Pappelreihen, Gräben und Weiden, der Wind lässt die Unterseiten der Blätter hellgrau und salbeifarben flackern. Ich merke, dass sich mein Blick ändert: einerseits schaue ich aus Bus/Tram seitwärts, nicht nach vorne auf die Straße und sehe dadurch viel mehr. Mich umgeben dort mehrheitlich Menschen, die ihren gewohnten Gängen nachgehen, ins Krankenhaus, zur Schule, zur Arbeit fahren. Draussen, neben dem Fahrradweg, mitten auf dem Land, sitzt eine Familie. Vater Mutter Kind sitzt auf dem Gras, die Fahrräder flach am Boden, die Beine ausgestreckt, die Oberkörper abgestützt, wie aus einem Breughel -Gemälde entsprungen. Auf einer Kreuzung kurz bevor die Stadt steht ein Mann, um die vierzig, herausgerissen aus seiner Behaglichkeit mit orangen Plakaten eingesandwicht, protestierend gegen die Autofahrer, auf dem Plakat kann ich nur Umwelt und Klima entziffern, eine ferne Auswirkung der rabiaten Überschwemmungen weiter östlich. Ich steige aus und bin am Touristenziel, einem, dass nunmehr mit den anderen Zielen aus zwei Monaten um Würdigung kämpft. Einerseits finde ich das mittelalterlich erhaltene Zentrum schön, ich erinnere mich, wie sehr ich mich vor vier Jahre an der Kulisse von Venedig erfreut hatte, aber ich sehe, wie schwierig es ist, in den Häusern, an denen Tag für Tag massenweise Touristen vorbeigehen, die die possierlichen Häuschen aus einer ganz anderen Zeit bewundern, ein heutiges Leben mit den Möbeln in heutigen Dimensionen, Küchen mit heutigen Utensilien und eine geschützte Privatheit zu leben. Was genau finden wir daran toll? Kaum einer würde heute so dicht am Nachbarn leben wollen, mit so vielen Nachbarn gedrängt. Denken wir, dass ist unsere wirkliche Geschichte? Was davon wirkt wirklich noch- und wie? Der überwältigende Geruch der vielen Chocolatiers und Waffelbäcker markiert „Belgien“, die chinesischen Spitzen und Gobelintaschen sind sourveniertauglich. Brügge war 2002 Kulturhauptstadt, das Netzwerk der Beziehungen hält und so wird der Sommer kulturell ausgeschmückt. Auf dem Burgplatz Nachwuchsmusiker, grade macht eine Countrysängerin den Soundcheck. Das Concertgebouw -Gebäude ist eindrucksvoll. Leider ist grade heute nix im Programm. Im Groetehusmuseum die Rogier van der Weyden und den van Eyck bewundert. Unglaublich, wie einen die Gesichter anschauen über die Jahrhunderte hinweg, in hyperrealistischer Ausleuchtung,wie war das möglich in diesen dunklen Ateliers mit Talglichtern?
Beim Umsteigen sehe ich einen älteren Mann, belgische Stoppeln,klobige Schuhe, ihm fehlen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Der Enkel im Kinderwagen, die Enkelin hat den Kinderwagen fest im Griff, rosa Tüllprinzessin. Er richtet ihr die Haare mit der verstümmelten Hand, liebevoll bleibt sie auf dem Kopf liegen, es ist das beste, was ihm passiert ist seit langem, dass er so ein Kinderköpfchen kraulen kann.
Freitagabend ist Ausgehtag, man trifft sich bei Bier und Häppchen, Geselligkeit, auch hier am Hafen, scheint doch zu funktionieren, wird genossen. Bier in Tulpengläsern, von Zartgelb bis Moorbraun leuchten sie, die Gespräche gehen über Tischgrenzen hinweg. In Gent sehen wir dann auch diverse Junggesellenabschiede, viel ist nachzuholen.
Gent gefällt mir gut, der Kern ist mit vielen gut hergerichteten historischen Bauten kompakte Historie, aber es gibt auch viel Neues, eine Universität mit vielen Studenten und, da die Bausubstanz an vielen Stellen an Prenzelberg vor der Gentrifizierung erinnert, scheint auch noch Freiraum zu existieren. Eine exquisite Buchhandlung in der Nähe vom Hauptbahnhof ist gleichzeitig ein Schreibmaschinenmuseum. Schöne belgische Mode (leider auf dem Boot fehl am Platze) ist der Rest der mittelalterlich florierenden Textil und Tuchindustrie. Die Stücke sind teuer, aber man scheint sie zu pflegen: es gibt erstaunlich viele Schneidereien, die Waschsalons haben nicht nur Waschmaschinen und Trockner, sondern auch Mangeln und Bügeleisen. Interessante kleine Läden mit kreativen Dingen. Auf dem Balkon des Theaters entwickeln ein Tänzer und ein junger Schauspieler eine Choreographie im Sonnenschein, zwei Typen in weißen Anzügen schauen der Performance zu. Wie gerne würde ich das Stück sehen in dem diese Szene eingebaut wird!
an der Straßenbahnhaltestelle ein Nordafrikaner, er schreit, flucht, fleht in allen Sprachen, die ihm auf seiner Migration aufgedrängt wurden, italienisch, holländisch, englisch, Brocken. Ein babylonischer Sprachfluss, der verwirrt ist oder berauscht oder krank oder alles. Ein paar Stationen weiter sind wir im internationales Viertel, dort sitzen die Botschaften aller Herren Länder, der Friedenspalast und internationale Gerichtshof, Weltforum. Alles ist grün und friedlich und großbürgerlich, man frühstückt im Café und feiert vor dem Ende der Sommerferien oder beginnt schon wieder zu netzwerken. Outlocation, also internationale Umzüge, expat rental, expat dental- selbst auf kleiner Ebene werden internationale Krankenscheine, Visabesorungen etc abgewickelt. Es heißt, 20.000 Mitarbeiter der UN und zuzuordnender Organisationen arbeiten in Den Haag. Die Straßenbahn bringt uns ein bischen weiter über die Centralstation nach Süden hinaus, dort gibt es eine ganz andere Internationalität: Straßen, in denen die kleinen Läden von Menschen aus ehemaligen Kolonien, aus Surinam oder von Menschen geführt werden, die ein immer letzter Krieg nach Holland gebracht hat. Asiatische Nagelstudios, Kebabbuden, Internetcafés. Ein überdünner Mann mit goldener Gletschersonnenbrille späht nervös die Straßenbahn ab, eine Gruppe stiernackiger Männer in Fussballtrikots die anderen Männer, deren Kopf genauso rasiert und gescheitelt ist rituell begrüßt. Im Photomuseum ist eine Ausstellung Borealis dem Nordwald gewidmet, der die Wälder Alaskas, Kanadas, Russlands, Skandianviens und Nordjapan umfasst und gegenüber dem äquatorialen Regenwald gerne unbeachtet ist. Ausbeuterische Rodung, Brände, Klimawandel betreffen ihn aber ebenfalls in ungeheurem Ausmass. Die Photographien zeigen Baumportraits und Menschen, die in der Unwirtlichkeit des Nordens Baumfäller, Trapper, Feuerwehrmann oder Forscher sind. Nach Rotterdam müssen wir die Metro nehmen,Vorstadt, Gewächshäuser, Land, Vorstadt, Wolkenkratzer und signature buildings. Rotterdam ist, was die Dichte der Hochhäuser betrifft in einer Liga mit Frankfurt und London. Es ist Sonntag und die zu erwartenden Büroangestellten oder Consultants fehlen im Stadtbild, nur ein paar Touristen und wenige versprengte Einheimische- warum sollte man auch in die Innenstadt fahren. Der Hafen ist riesig und kann von uns mit dem Wasserbus gar nicht ermessen werden. Wir sehen belebte, schöne Parks, Skulpturengrachten und zwischen den Hochhäusern ist viel Raum, für Wind und Licht, für Fahrräder und Fussgänger. Parken ist astronomisch teuer. Ich hatte gehofft, im Architekturmuseum etwas zu erfahren über die Konzepte beim Wiederaufbau der Stadt nach der zweimaligen Bombardierung (durch deutsche und britische Truppen) im WKII, bei der man sogar die Wasserleitungen und Infrastrukturkanäle neu gemacht hat. Ein bisschen scheint es so wie bei Kunst aufräumen gewesen zu sein, die Banken um die Börse herum, die Hotels in der Nähe des Museumsparks, dortselbst verschiedene Museen an einem Platz. Doch der Ansatz des Neuen Instituts für Architektur und angewandte Künste ist anders, eher werden in großen Textblöcken Fragestellungen entwickelt und dazu einige Bilder/Installationen zur Veranschaulichung der Fragestellung gestellt. Beispielsweise zur Nutzung von AI bei der Interpretation von Bildern von Wohnräumen. Dabei greift die AI ein Bildelement auf- Spielzeug in Kinderzimmern oder Bücher in einem Wohnzimmer- und assoziiert dazu Gedanken über Pädagogik oder intellektuellen Mehrwert. In einer anderen Box wird über den Anstieg des Umsatzes von Putzmitteln während der Coronakrise berichtet und über die beruhigende Wirkung von Hygiene-Gesten. Ergänzt wird das aber durch hyper-sensoround getunte Wisch- oder Staubsaugergeräusche, die große Nervosität erzeugen. An anderer Stelle wird Raum bereitgestellt für Abschlussarbeiten von Architekturstudenten. Eher ein Lab als ein Museum, und es regt mich zu der Idee an, dass man einmal zu allen Gebäuden dieser Stadt die Projektbeschreibungen und Genehmigungstexte zusammenstellen sollte. So frage ich mich, wie die Modernisierung des Scheveninger Hafens konzipiert wurde: International schicke Wohnblöcke (wie in Malmö, Mandal, Kopenhagen etc etc), aber kein Bäcker, kein Einkauf, keine Schule und kein Kindergarten. Eigentlich kann hier nur der Consultant wohnen, morgens im Fitnesstudio bekommt er Kaffee und Croissant, Mittags wird man im Büro verpflegt und abends geht man mit Kollegen/Kunden essen oder der Lieferservice kommt. Vielleicht auch noch der pensionierte Professor. Wir bleiben noch länger, der Wind ist uns zu heftig- zur Freude der Kiter. Beim Weg zur Düne werden die Beine gesandstrahlt, um die Eingänge der Neubauten bilden sich kleine Sanddünen, die Wüste holt sich die Bauten, die Hypothekenvermittlungen und Maklerbüros zurück. Mit dem Fahrrad die Promenade entlang, Holland Casino und Pier- Brighton und seine Standard-Sommervergnügen lassen grüßen. Die Ferien sind zu Ende, das Wetter ist schlecht, die Wlken hängen tief. Das Beelden an Zee Museum grüßt mit Teletubbyartigen Skulpturen, wir lassen es lieber links liegen. Auf eigenen Fahrradsstraßen zum privaten Museum Voorlinden, 2016 eröffnet, auf einem riesigen Landgut, ein paar Kühe sind Teil der Inszenierung einer gepflegten niederländischen Landidylle, darin eine Version der Kunsthalle von Mies van der Rohe in edlen Materialien, raffiniert angelegter pseudonatürlicher Staudengarten, drinnen internationale Wellness-Kunst vom Feinsten. Aktuell wird Robin Rhode gezeigt, der sudafrikanische Stop – Motion Künstler. Während in Wolfsburg, der Arbeiterstadt, der Aspekt der Arbeit in prekären Vierteln Südafrikas herausgehoben wird, wird hier eher über den Tree-of Life meditiert. Nach vielen Tagen an der frischen Luft, Wind gradezu und spürbar abklingenden Temperaturen genieße ich es, in einem schönen, hellen, luftstillen Raum mit schönen sauberen Dingen zu sein und meine Gedanken spielen zu lassen mit diesen zweckfreien Bildern, aber es ist auch ein wenig ein guilty pleasure unter dem Glassturz. Das Museum könnte genauso gut in Skagen oder auf Usedom stehen und die dort die Möglichkeit einer Art-Idylle postulieren. So ratlos mich das Neue Institut in Rotterdam hinterlassen hat, es nimmt intensiver teil an der Gegenwart und an den spezifischen Situationen in Rotterdam.
Der Blick über das Watt bei Ebbe und Sonnenuntergang war köstlich, der Modder sah auf einmal ockergolden aus und glitzerte bis weit draußen, zur Seite weiße Dünenhügel mit fahlgrünem Strandhafer, im Vordergrund marschige Wiese, über wölbt von Kiefern, die chinesische Tuschemaler entzückt hätten. Großartig, dass die Niederländer dieses Gebiet unter die Obhut des Weltkulturerbes gestellt haben Wir erleben, dass mehr als die Uhrzeit Ebbe und Flut für hiesige Segler viel wichtiger ist: X Stunden vor oder nach Hochwasser ist Abfahrzeit, unabhängig von der Zivilzeit bestimmt der Tidenkalender den Tagesrhythmus. Egal wie viel Windwelle auf der Wasseroberfläche steht, die untergründige Flutbewegung verändert die wahrgenommenen Distanzen, mit dem Strom kommt das Ziel auf einen zu, gegen den Strom kämpft man gegen den Rückwärtssog und steilere Welle an, die Zeit bis zur Ankunft dehnt sich. Ob solche Erfahrung von Kindesbeinen an das Weltverständnis ändert? In Norwegen ist die Grenze zwischen Land und Wasser klar und hart, in Holland ist sie oftmals nicht so eindeutig, es kommt auf die Zeit an, manchmal öffnet sich ein Verbindungsweg auf dem Trockenen im Watt für einen gewissen Zeitraum auf einem veränderlichen, immer neu zu prüfenden Weg, manchmal ist er nicht mehr begehbar.
In vielen Orten an der See ist es einfach möglich, ein paar Meter Höhe zu gewinnen und schon hat man einen panoptischen Blick, das Land liegt vor einem, von oben hat man eine zusätzliche Perspektive, um die Verhältnisse zu sehen: Wo liegen die alten Häuschen, wo die neuen Hotelkomplexe, wo gibt es Felder, die bewirtschaftet sind, wo Tourismusflächen, Man kommt der Karte näher, und denkt, es wäre objektiver. Ist es das? Ist die Küstenline, mit ihrer verwirrenden Inselkulissenschieberei nicht viel stärker eine Schule der Wirklichkeitsfindung?
Die Vielgestaltigkeit der Insel gibt Terschelling auch Raum für Nischengruppen: hinter der ersten Siedlungsgruppe bildet sich die Zeltstadt der Jugendlichen, die am Wochenende anreisen, in der einen Hand einen Rollkoffer, in der anderen eine ebensogroße Soundbox auf Rollen, einer schleppt die Biervorräte- das Wochenende wird Party. Es scheinen Hunderte von der Fähre zu strömen.
Eine andere Nischengruppe sind die Traditionssegler, viele liegen beieinander in der flachen Ecke des Hafens, es wirkt fasst wie ein Jugendlager für Erwachsene und Familien, man erkennt sie an den warmen derben Stiefeln. Ein Dreimaster, der aussieht, als wäre er aus der Zarenzeit reaktiviert worden,kyrillische Buchstaben am Heck, wird allgemein anerkennend begutachtet.
Terschelling bis den Haag
Die Etappe bis den Helder führt uns durch die Waddenzee, Tonnenstrich fahren und beobachten, wie das Land sich hebt. Den Helder ist Standort der Beneluxmarine, wir liegen im Yachtclub der Marine umgeben von allem, was die Niederlande und Belgien an schweren Fahrzeugen aufbieten. Die Clubanlagen strahlen die Solidität von Kriegsgerät aus, alles groß und schwer. Die Marine der Niederlande ist, bei knapp einem Fünftel der Einwohner Deuschlands etwa halb so groß wie die Deutsche Marine und macht einen durchaus mächtigen Eindruck.
Von den Helder nach Ijmuiden zum drittgrößten Fischhafen der Niederlande. Der Hafen macht nicht den Eindruck eines Fischhafens, sondern eines rauchenden Industriehafens mit Verhüttungswerk und großen Schütthalden. Dennoch wird der Strand gesäumt von Badehausreihen, quasi als Linearisierung der gestapelten Wohnhochhäuser. Der Hafen ist Bestandteil eines in den 90gern gebauten Ferienresorts, Hotel, Kasino, Promenadebauten mit Chinarestaurant und Plastikschäufelchenvertrieb. Ein Windsurf – Basecamp ist später dazugekommen, vergangene Strukturentwicklungsvisionen. Schließlich kommen wir in Scheveningen an, bei der Einfahrt in den Yachthafen höre ich Fahrradklingeln von oben, wir liegen in einem modernen Stadthafen, vergleichbar mit dem in Malmö. Abends ist er so voll, dass man fast zu Fuß über den Hafen gehen kann, nur eine schmale Gasse bleibt.