Friday/Saturday Night in Arendal

Arendal gibt sich Mühe, südliches Ferienflair zu verbreiten, in einem Café-Innenhof gibt es Comedy ganz und gar norwegisch, lustige Dialoge, bei denen ein Mann eine Nachtmütze auf dem Kopf hat und eine Basstuba die musikalische Untermalung leistet. Ein Café weiter eine ältliche Blues-Covercombo, um die Hafengasse flanieren Familien mit hinterherzockelnden Teenagern auf der Suche nach einem Restaurant, andere haben sich entschieden und stehen in einer Schlange vor den schickeren Restaurants auf der Ostseite des alten Hafens. Man sieht hochhackige Schuhe und weiße Hemden. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die modischen Codes entschlüsseln konnte: Kleider mit mehreren Lagen Rüschen sehen zwar aus wie Sahnetorte, sind aber top modern und, wenn die Trägerin die Schulter noch freirückt eine klare Freitagsnachtansage. Mädels sind in Dreiergrüppchen unterwegs, Jungs eher in größeren Grüppchen und ziehen dann aufgekratzt mit ausgreifenden Schritten los. In einer Gruppe gibt es Geplänkel, eine Familie setzt sich ostentativ hin und hält Blickkontakt, schließlich nimmt einer den bedrängten Kumpel, der sich das nicht gefallen lassen will, und schiebt ihn aus der Konfliktzone. Es gibt auch diverse Sicherheitskräfte, die herumlaufen. Wir sind zu müde, um den Ereignissen des Abends weiter zu folgen. Was braucht man Theater, wenn man dem Leben zuschauen kann? Aber immer liefert uns unsere Phantasie das offensichtliche.
Statt Auto-Posing gibt es Motorboot -Stunts. Ein relativ kleines Boot, vollgestellt mit Wikingern, in der einen Hand das Bier, die andere nach oben gereckt, wenn die Musik und die Balance es zulassen, schwappen sie durch den Hafen. Auf dem großen Motorboot sitzen drei distinguierte Paare mit Weißwein oder Gin-Tonic Gläsern, leider ist das Abendessen nicht gut gelaufen, die Konversation ist in Handygedaddel heruntergedimmt.
In den späten Neunzigern haben wir in Berlin diverse Entwicklungspläne für Bauland betrachtet: an den Erschließungsstraßen drei- oder viergeschossige Mehrfamilienhäuser, zur Lärmdämmung, dann Doppelhäuser und innen drinnen die Villen. Hat den Vorteil, dass jeder nur auf jeweils eine teurere Wohnsituation schaut und nicht zwei Preisklassen weit blicken muss. Im Hafen ist es umgekehrt, außen liegen die großen Yachten und Motorboote (dort sind die Boxengrößen nicht so strikt vorgegeben), innen die kleineren Boote. Die Bootsgrößen sortieren sich gemäß der vorgegebenen Wassertiefe/Stegstruktur. In der Marina: Weiter hinten sind viele kleinere Boote untergebracht, die ja auch Fahrdienste leisten („bring mich mal schnell zu…“). Die Marina in Arendal kann nur online gebucht und bezahlt werden, bei voll norwegischer Sprachführung und noch nicht so elegant integrierten elektronischen Zahlungsmitteln eine gewisse Herausforderung. Lustigerweise führt die Digitalisierung hier zu verstärktem Personaleinsatz: mehrfach täglich schauen Ferienjobber herum, ob der Liegeplatz, an dem ein Schiff liegt, bezahlt ist. Häfen sind im Grunde bereits heute Modelle für schwimmende Städte, insbesondere hier: Man fährt sein Ferienboot in der Größe eines kleinen Häuschens vom Norden in den Süden, dockt dort an mit Wasser und Strom und bildet eine kleine Stadt (hier in Arendal vielleicht 500 Boote, also vielleicht 1500 Leute). Sanitäranlagen, Waschmaschinen, Müllabfuhr, Fäkalienentsorgung der Septiktanks werden geteilt über die Liegegebühren. Ob die Steganlage im Herbst abgebaut wird oder gegen Eisgang geschützt wird, wird vermutlich von Ort zu Ort unterschiedlich gehandhabt. Das deckt die Minimal-Infrastruktur ab- was ist mit komplexeren, sozialen Strukturen?
Arendal hinterlässt einen gemischten Eindruck: eine Schar von fancy People genießt die Sonne, Freizeit, speist fürstlich und geht auch zum Friseur, Nagelstudio (sonst noch nie gesehen) oder Spa. Die Landesverwaltung hat sich mit einem schicken neuen Gebäude eingerichtet und die Bauwirtschaft unterstützt, aber viel lokales, ganzjähriges scheint es hier nicht zu geben. Im Internet kursieren Aufsätze über die Entwicklung von neuen Dienstleistungssekturen durch Ankurbelung der Nachfrageseite- fast könnte das missglückte Marina-Buchungssystem ein Beispiel sein. Im glossy fancy Arendal magazine ist ein Artikel über ein Batteriefabrik und in der Zeitung sehe ich eine Zeichnung, die die ausgemusterte Ölbohrstation in einen Fähranleger umbauen will. Große Pläne.

Mit Gegenwind nach Kristiansand
Wurde von den Dänen 1656 angelegt, wie die spanischen Kolonialstädte im Rechteck-Schema, im nordwestlichen Quadranten stehen noch Holzhäuser, ganz dänisch hygge mit Blumen und Bank. Der Industriehafen ist von Fährbetrieb (Dänemark) geprägt und hat eine kleine Containerlagerfläche, Fisch natürlich auch. Für eine Stadt mit ca 120.000 Einwohnern ein fantastisches Kulturangebot: Theater, separates neues und prächtiges Opernhaus, riesige Bibliothek, Kunsthalle, mindestens drei freie Galerien, ein ehemaliges Silo wird zum Kultureventspace umgebaut. Die Kanalbyen ist nach dem Vorbild von Malmö, Oslo etc im Bau, verdichtetes Wohnen, vier bis fünfgeschossig, Blick aufs Meer, sieht hochwertig aus. Die einen werden sagen, schade um die schönen alten Holzhäuser, die anderen könnten meinen, dass Europa einfach auch von den Wohnbedingungen her und architektonisch zusammenwächst.

Sommeridylle

Risør ist voll, wir legen an einem Anleger in einer Ferienanlage an. Die Großwetterlege folgt nicht dem klassischen Sommer-Westwindschema, es ist Flaute angesagt für Morgen. Zuhause Überschwemmungen, Klima kapput.
Nachts sehe ich stundenlang zwei Sternen durch die Luke zu, die sich trotz des sommerhellen Nachthimmels zeigen. Die Stille ist ohrenbetäubend. Da- babe ich Käuzchen gehört? Regelmäßiges Platschen- ich glaube nicht, dass es ein Schwimmer ist, eher ein Tier. Bei einem Ausflug mit dem Dingy sehen wir einen Seehund, i ch habe keine Ahnung ob er beim Schwimmen Geräusche machen könnte, die man auf Wasserhöhe hören könnte. Tagsüber horche ich viel mehr als sonst: ob das Boot oder der Motor Geräusche machen, die ungewöhnlich sind, ob man sich nähernde andere Boote hört, aber vor allem die Schreie der Vögel um mich herum: Mal dominieren die Möven den Luftraum und organisieren sich durch ihre kehligen Krächzlaute, manchmal tobt eine Horde von Seeschwalben herum, oder in der Ferne beginnen sich die ersten Schwarmformationen zu bilden und erinnern daran, dass der Herbst hier oben wohl früher anfangen wird.
Vorerst ist hier aber Sommer, ein Norweger empfindet es gradezu als mediterran. Viele Familien haben drei Kinder, der Campingplatzsituation entsprechend alle ganz jung. Tagsüber schwimmen sie wie Otter im Wasser, Geplansche bis in die Nacht hinein. Generell wird das Motorboot genutzt wie ein Auto, jede Hütte hat einen Steg oder mindestens einen Haken zum Anlegen, Google weiß keinen Weg von unserer Anlegestelle bis nach Risør. Da ich nicht in die Schlafräume und eventuell dort hausende daddelnde Teenager sehe, kommt mir das Leben hier in der Anlage vor wie vor 50 Jahren. Meinem Alter entsprechend genieße ich diese Illusion.

Oslo

Am Rande von Tjuvsholmen ist ein Spielplatz- für Erwachsene und Kinder, Skateboarder klackern über die Blöcke, Jungs üben Parcours-Schwünge, andere nutzen die Geräte für Krafttraining. Am Rande steht ein Baum, könnte der Baum aus dem Auenland sein, aber der Stamm ist aus Pappmaché und die Blätter leuchten grün, hellgrün oder zartlila, ich werde beobachten müssen, ob die Farbe von irgendwas abhängt- Uhrzeit, Jahreszeit, Wind Temperatur. Mit der Klarinette sitze ich dort und mache mich mit dem Instrument vertraut. Nach einer Weile kommen zwei junge Männer vorbei und bedanken sich für die musikalische Untermalung, dabei ist es doch bislang nur das, was das wunderbare Instrument freiwillig von sich gibt.
Die erst kürzlich gelockerten Einreisebestimmungen haben die Touristen weitgehend ferngehalten, wir haben Akershus fast für uns allein. Das Schloss ist von seinen Dimensionen beeindruckend (gibt es eine anthropologische westeuropäische Konstante, das die Ausmaße der Schlossauffahrt ein Vielfaches der Körpergröße und des BIP der Einwohner ist?). Der Park ist von Anfang an öffentlich zugänglich gewesen (einzig in Europa). Rechter Hand die Statue einer Maud, Königin von Norwegen, aus Granit, viktorianisch gekleidet, eine Figur wie gedrechselt. Die Statue ihres Mannes, mit Blickachse auf den Hafen aufgestellt ist von verlängerter Gestalt, bürgerlich gekleidet, der Kopf trägt individuelle Züge, die Kopfbedeckung hält die rechte Hand über dem Herzen, beeindruckend menschlich.
Im Königinnenpark hinter dem Schloss ein Statue von Claudine Colbert, Sufragette. Ein erläuterndes Photo zeigt die aktuelle Königin bei der Niederlegung von Blumen. Ob der Fall des Cape, der an die Historiengemälde des 19. Jahrhunderts erinnert, wirklich zufällig ist? Noch an vielen weiteren Stellen erläutert die Stadt sich mit Bildtafeln, der Storting. Ist mir das erst jetzt aufgefallen, wie sehr damit das Selbstverständnis einer Stadt, eines Staates formuliert wird?
Die Achsen sind natürlich geplant, bereits im frühen 19. Jhd. : Schloss- Theater/Universität und dahinter der Storting, das Zentrum der bürgerlichen Macht. Am Platz vor dem Theater schneiden sich die Achsen vom Hafen, das neue Nationalmuseum ist auch darauf ausgerichtet wie auch die Verbindung vom Rathaus kommend. Fein austariertes Spielfeld der Einflusssphären.
Deichmanns Halle: eine Stadtbibliothek der Superlative, der Traum des Bibliothekars, edle Lesesessel, großzügige Öffnungszeiten, Musikspielräume, norwegisch ist leider kein einfaches Ratespiel, ungeheuer einladend (ab einer bestimmten Größenordnung muss jede Kommune eine Bibliothek betreiben, und hier ist natürlich die Schönste.
Alles ist digital, im Restaurant scant man einen qr-Code, wählt dann die Speisen und bezahlt digital. Wenn das Essen fertig ist, bekommt man eine SMS und holt es ab- leider haben wir kein norwegisches mobilepay. Tickets für die S-Bahn sind auch nur noch über App zu bekommen. Um einkaufen zu können, müssen auch Kinder eine Geldkarte haben.
Abends im Hafen findet auf einem Motorboot-eine Party statt, wie im Comic ein halbes Dutzend der Schönsten Mädchen der Stadt und entsprechend viele Wikinger, Champagner kreist. Die Länge der Boote wird nicht mehr in Fuß, sondern Metern angegeben. In den Restaurants wird gefeiert, schön, edel, teuer. Die Appartments werden bei arbnb für 260$ pro Nacht angeboten, aber eigentlich schätze ich, dass das die location für expats ist oder Analysten des norwegischen Staatsfonds, die modernen Fürsten. Büros von Bearing Point etc..
Es regnet- ein Museum muss angesteuert werden
Das Historische Museum ist köstlich verstaubt, ich hatte ein Museum mit der Intention, ein norwegisches geschichtliches Selbstverständnis zu definieren erwartet, statt dessen eher ein Völkerkundemuseum älteren Zuschnitts. Wunderbarer Goldschmuck aus der Migrationszeit (500 A.D), verschlungene Holzschnitzereien verweben Tiere und Bewegungen, schon beim konzentrierten Auflösen der Strukturen muss man sich so konzentrieren, dass man sich gut vorstellen kann, dass ihnen magische/schamanische Kräfte zugeschrieben werden könnten.
Es regnet weiter- Astrud Fearnley Museum mit moderner Kunst. Die meisten Besuchen sind in der Sonderausstellung, die reguläre Sammlung haben wir fast ganz für uns. Leider fast ausschließlich große Internationale Namen mit entsprechend typischen Werken. Weiter zum Holmenkollen mit der S-Bahn- auf dem Weg kommt man an Wohnblöcken und netten Holzhäusern vorbei, viel Einfachverglasung- ob der Windstrom so billig ist? Benzin kostet 1,80, für ein erdölförderndes Land viel. Es regnet weiter Landregen. Die Schanze ist mit ihrer Größe und Steilheit furchterregend. Dennoch ist der Blick über die Fjordlandschaft beeindruckend.

Morgens im Oslofjord geschwommen, checkmark (das Wasser ist auch nicht kälter als auf Anholt). Anscheinend gehört es zu den Morgenritualen auch in Norwegen: im Bademantel zum Meer gehen, eine kleine Runde drehen und den Tag beginnen. Nach der Feiernacht gestern abend auch mehrere Unterhosen auf der Strasse entdeckt- ein Wikingerklassiker: Nach dem Met ins eiskalte Wasser springen- zumindest den Kreislauf nüchtert das aus..

In der Kunsthalle eine große Ausstellung von Ida Ekblad, die Dame an der Kasse apostrophierte sie als die bekannteste aktuelle Künstlerin Norwegens. Oh, Bildungslücke! Ein Saal enthält überlängte Eisenöfen, eine Referenz auf E. Munchs Mädchen und Eisenofen, grau, subtil. Der andere Saal ist voller großformatiger, zu Gruppen gehängter Bilder, die auf der Basis von Plastisolstrukturen Himmelblau, Kirschrot, Weiß mit figurativen Anklängen darstellen. Die Titel sind gradezu Barock: „chip of concrete smelly sour limestone dusty dry on the tongues swallowed some“ und könnten aus einer Liste von hashtag-Vorschlägen stammen. Obwohl die Farben kinderfröhlich sind, sind die figurativen Elemente zerrissen, angerissen, weitergezappt. Mit der kuratierten Ausstellung transitions kann ich mehr anfangen: Durch die Auswahl und Gruppierungen kann man einfacher Bedeutungen und Ideen „sehen“.

Wir flanieren weiter und fahren mit der Tram zum Ekebergparken. Ein altes Ehepaar sitzt auf einer Bank und betrachtet das Panoptikum vor ihnen- ob sie das Oslo vermissen aus den Jahren, wo ihre Beziehung angefangen hat – oder ob sie stolz auf die großen Veränderungen sind, die sie miterleben können? Von dort kann man gut die ungeheure Umgestaltung sehen, die Oslo durchmach: die urbane Fjordlandschaft wird neu in Nutzungszonen eingeteilt, auch die Wohnungsbebauung wird hoch verdichtet. Dabei profitiert man sehr von den alten Grünanlagen wie genau dem Ekebergparken, der auf Betreiben der Arbeiterpartei 1911 von der Stadt angekauft wurde. Wenig Dachbegrünung, wenig sichtbare Wasserwirtschaft, viel Renommé für Architekturbüros. (ziemlich interessant: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwiP3b6I59vxAhXnxIsKHRSnADsQFjAEegQICRAD&url=https%3A%2F%2Fstorymaps.arcgis.com%2Fstories%2Fe7eb534426eb4151bea73359911d4a15&usg=AOvVaw2QJDsdHz1vLu_jI9nY7W4f)

Montags sind (fast) alle Museen der Welt geschlossen, also geht es weiter- Bye Bye schöne Stadt

Anholt


Von Kerteminde nach Anholt. Nach der letzten Querung der Schifffahrtswege riecht das Wasser nach sauberem Meer, frischem Tag und dunkel schwer. Dunklen Wolke, wechselnden Winden aus fragwürdigen Richtungen bricht der Tag endlich weit im Nordosten an.
Sowohl die Griechen (Eos) als auch die Inder (Usha) haben diesem Moment eine hohe Göttin zugeordnet: Schöngesichtig die Griechische Göttin, freigiebig, wohlwollend und fordernd die indische Göttin,die Farbenzuordnung ist jeweils aus der Metereologie abgeleitet. Übermüdet vergessen wir das angemessene Trankopfer des ersten Morgenkaffees.
Der Wind wird günstig und trägt uns schnell nach Anholt. Schon eine Meile vor dem Hafen liegt der Harzgeruch von trockenen Kiefern auf dem Wasser. Wie immer ist sofort die Anholt-Stimmung da: das entspannte, offene Inselglück, Sonne, klares kaltes Wasser. So gut wie keine Landwirtschaft auf der Insel, auch hier schrumpft die ständige Einwohnerzahl. Ganz offiziell sucht die Gemeinde Personen, die hier im Winter wohnen wollen. Im Sommer ist es leicht und hell, trocken und voller Lebensfreude, aber die Saison ist nur kurz und der Winter wird herausfordernd sein, keine Ablenkungen werden die Verlassenheit und Strenge der Natur vergessen lassen
Am Weg zum Havnekontor duften die Hagebutten-Rosen, schnell ins Wasser. Zum Trocknen stecke ich meine Nase in das neue H&M Handtuch- das meinige hatte ich in Heiligenhafen versenkt. Der Geruch nach strengem Insektenpulver (um Einnistung von Ungeziefer in den Transportcontainern zu verhindern), typisch in den Filialen von H&M. Eigentlich hasse ich diesen Geruch, jetzt bin ich etwas freundlicher gestimmt, wegen der Ankündigung H&Ms, keine Baumwolle aus XinJiang zu beziehen.

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